Von Pferden lernen: Das Pferd – mein Mentor

Wenn ich morgens die Koppel öffne, stehen sie da: vier Paar gespitzte Ohren, die aufmerksam lauschen. Mein großer Brauner, der mich mit seinem gewohnten „Was gibt’s heute zu tun?“-Blick durchbohrt, unsere liebevolle Fuchsstute, die ruhig und höflich auf Abstand wartet, die kleine wilde Tinker-Stute, die neugierig alles inspiziert, und mein etwas grummeliger Huzule, der mir ganz klar signalisiert, dass er heute wohl noch keinen „Kaffee“ hatte. Das ist meine Herde. Mein Spiegel. Meine besten Lehrer.

Denn Pferde sind weit mehr als Reittiere oder Sportgeräte. Ja, noch mehr sogar als Freizeitpartner. Sie sind Mentoren – wenn wir sie lassen. In meiner Arbeit mit Pferden habe ich gelernt, dass sie uns auf eine Art den Spiegel vorhalten können, wie es kein Mensch je könnte. Absolute Ehrlichkeit blickt einem entgegen. Und dabei geht es nicht um eindrucksvolle Tricks oder spektakuläre Showeinlagen. Es geht um etwas Tieferes: darum, wer wir wirklich sind.

Warum ausgerechnet Pferde?

Pferde sind Fluchttiere. Das ist wohl bekannt. Aber was genau bedeutet das? Ihre komplette Existenz hängt davon ab, ihre Umgebung und die Menschen, die darin vorkommen, ganz genau lesen zu können. Sie merken, wenn wir unsicher sind, wenn wir hektisch werden oder – noch schlimmer – wenn wir etwas vorgaukeln. Einem Pferd kannst du keine Märchen erzählen. Entweder du bist authentisch, oder es zeigt dir ganz direkt, dass du einen schlechten Tag hast und dir bitte für heute doch lieber ein anderes Hobbie suchts.

Ein Beispiel? Als ich einmal mit Hitchie, meinem Freiberger-Wallach, in die Freiarbeit ging, war ich innerlich lange nicht bei der Sache und im Hier und Jetzt. Die Kursplanungen, die Heulieferung, das Chaos zu Hause und die 500 unbeantworteten E-Mails waren meine eigentlichen Begleiter. Hitchcock hat mich angeschaut, als wolle er sagen: „Ehrlich jetzt? Wenn du nicht da bist, bin ich es auch nicht.“ Statt mir nachzugehen, wendete er sich ab, inspizierte jeden Grashalm, jedes Blatt und jeden Gegenstand am Rand des Reitplatzes. Bei jeder Kontaktaufnahme meinerseits trabte er davon. Sein subtiler Hinweis: „Erstmal klär dein Chaos im Kopf, dann können wir reden.“

Das Pferd als Mentor

Pferde spiegeln uns in unserer Klarheit, Präsenz und inneren Haltung. Wer unsicher auftritt, wird nicht führen können. Wer hektisch ist, wird keine Ruhe finden. Und wer erwartet, dass ein 500-Kilo-Tier „einfach mitmacht“, nur weil man ein Halfter in der Hand hat, der sollte sich auf eine harte, aber sehr ehrliche Lektion einstellen.

Dabei ist das Pferd kein strenger Lehrer, sondern ein geduldiger Mentor. Es verlangt keine Perfektion, sondern Authentizität. Wenn wir klar kommunizieren, ehrlich sind und den Mut haben, auch mal Fehler zu machen, dann reagieren sie mit Vertrauen. Pferde (ver-)urteilen nicht – sie beobachten, reagieren und laden uns ein, besser zu werden.

Denn ein bekannter Spruch des Horsemanships lautet: „Das Pferd hat IMMER Recht!“

Doch so großartig diese Lektionen sind, so gibt es auch Grenzen. Pferde sind per se keine Therapeuten. Sie können uns aufzeigen, was in uns los ist, aber die Arbeit an uns selbst können sie uns nicht abnehmen. Wer glaubt, ein Pferd werde alle Probleme lösen, wird schnell feststellen, dass es eher den Finger – oder besser gesagt, das Hufbein – auf die Wunde legt.

Was wir von Pferden lernen können

Pferde lehren uns viele Dinge, die im Alltag oft verloren gehen:

  • Präsenz: Ein Pferd lebt im Moment. Es macht sich keine Sorgen darüber, ob es morgen regnet oder ob es gestern die Kurve in der Halle perfekt genommen hat. Nicht einmal wirklich nachtragend ist es – welch ein Glück – wenn wir das Heu gestern eine halbe Stunde später als sonst rausgebracht haben. Es ist jetzt da, und das erwartet es auch von uns.
  • Klarheit: Wer sich nicht entscheidet, wird im Pferd keine Gefolgschaft finden. Das Tier braucht klare Signale, keine schwammigen Absichten. Und ehrlich – wie oft könnten wir auch im Alltag klarer sein?
  • Geduld: Beziehungen brauchen Zeit, Vertrauen muss wachsen. Ob mit einem Pferd oder mit Menschen – schnelle Lösungen führen selten zu tiefen Verbindungen.
  • Fairness: Pferde erwarten klare, gerechte Regeln. Sie reagieren auf unnötigen Druck oder Ungerechtigkeit mit Vertrauensverlust. Diese Lektion lehrt uns, wie wichtig Fairness auch in menschlichen Beziehungen ist.

Humor und Demut

Natürlich gibt es auch Momente, in denen das Pferd als Mentor uns schlicht in den Wahnsinn treibt. Wie Robin, mein Huzule, der mit stoischer Gelassenheit beschließt, dass heute der Tag ist, an dem er sich beim ersten Anzeichen von zu viel Druck einfach wie ein Baum in die Erde verwurzelt. Oder Kate, die kleine Tinker-Dame, die auf meine erste Geste mit einem galoppierenden „Okay, ich mach schon!“ reagiert, obwohl ich ihr eigentlich sagen wollte, sie solle stehenbleiben.

Diese Momente fordern uns heraus, aber genau das macht sie so wertvoll. Denn wenn wir bereit sind, nicht alles so ernst zu nehmen und uns ein bisschen auf den Humor der Situation einzulassen, lernen wir mehr, als wir je erwartet hätten.

Anders, als du denkst

Pferde sind keine Zauberer, keine Therapeuten und keine Lebensberater. Aber sie sind wunderbare Mentoren für alle, die bereit sind, hinzusehen und zuzuhören. Sie zeigen uns, was wir brauchen, um klar, präsent und authentisch zu sein – nicht nur im Umgang mit ihnen, sondern auch im Leben.

Und so stehe ich jeden Morgen vor meiner Herde, lasse mich von ihren Blicken durchbohren, von ihrem Spiegel inspizieren und frage mich: „Was kann ich heute von euch lernen?“ Die Antwort ist immer die gleiche: „Mehr, als du denkst.“